Blick vom Gipfel des Chasseron über das Nebelmeer unterhalb des Hotels

Le Chasseron: Dichter, Schluchten, Panorama und Musikautomaten

Beflügelnde Weiten, enge Schluchten und Industriekultur prägen diese zweitägige Wanderung von Môtiers über den Chasseron nach Ste-Croix. Die Wanderung verbindet das mystische Val-de-Travers mit dem früheren Zentrum der Präzisionsmechanik Ste-Croix.

Die Wanderung kann auch in einem Tag absolviert werden. Die Aufteilung in zwei Tage macht aber insofern Sinn, als die An- und Rückreise ab Zürich Hauptbahnhof mit dem Zug gute vier Stunden dauert. Eine Übernachtung auf dem einsamen Chasseron ist für die Kinder ein wunderbares Erlebnis und am zweiten Tag ist genügend Zeit für einen Besuch des sehenswerten Musée CIMA in Ste-Croix vorhanden.


Region: 3-Seen-Land, Val-de-Travers, Chasseron
Tour Datum: 14. / 15.10.2011
Wandern Schwierigkeit: T2 – 3 / Wandern – Bergwandern (siehe » Alpinwanderskala)
Wegpunkte: » Môtiers – Pouetta Raisse – La Vaux – Les Cernetts Desuss – La Grondsonne Dessus – Le Chasseron – Crêt de Gouilles – Praz Buchons – Les Replans – Ste-Croix
Karten: Landeskarte 1:25 000, Blatt 1182 Ste-Croix und 1163 Travers; geo.admin-Karte: Digitale Wanderkarte
Zeitbedarf: ca. 5 – 6 Stunden für den Aufstieg und 2 Stunden für den Abstieg. Die Führung im Musée CIMA dauert 1 Stunde und ca. 15 Minuten
Aufstieg: ca. ca. 870 Höhenmeter
Abstieg: ca. 570 Höhenmeter
Für Kinder: Anfahrt mit der Regionalbahn durch das Val-de-Travers, Schlucht Pouetta Raisse, Übernachtung auf dem Chasseron, Musée CIMA, Spielplatz beim Bahnhof Ste-Croix
Restaurants: Diverse in Môtiers, Hotel Le Chasseron, diverse in Ste-Croix
ÖV-Anbindung: Bahnhöfe Môtiers und Ste-Croix

Zwei Tage unterwegs, eine Herausforderung in Logistik und Motivation

Bei Tageswanderungen ist es bei uns selbstverständlich, dass jeder seinen Lunch selber trägt. Natürlich schleppt der Vater, neben der allgemeinen Verantwortung, auch noch Zusätzliches wie Apotheke, Kartenspiele, Kompass usw. mit. Aber eine zwei Tage dauernde Wanderung stellt uns drei doch vor logistische Herausforderungen. Neben Lunch und Wasserflasche müssen ja auch noch Reservekleider, Hausschuhe und der Schlafsack mit. Wie soll das alles in die kleinen Tages-Rucksäcke?

Gut liegt noch ein etwas grösserer Rucksack, als mein üblicher für Tagesausflüge, auf dem Speicher. Erfreulich auch die Schlafsäcke der Kinder. Diese modernen Dinger sind nicht nur quietschbunt und leicht, sondern auch ganz klein zu kriegen. Mein alter Armee-Schlafsack mit Hülle schlägt da völlig aus der Form. Und schwer ist das Mistding auch noch … Muss ihn gelegentlich halt doch gegen so ein farbiges Platzwunder eintauschen. Obwohl ich das alte Ding eigentlich mag. Er ist so bequem zum Schlafen, nicht einengend. Ich liebe die neuen “Mumien” nicht. Aber der Platzverbrauch ist doch enorm. Quer über den Rucksack geschnallt habe ich Überbreite. Das ist hinderlich im Zug, in der Schlucht, im Hotel …

Anreise, Entschleunigung und lockeres Einlaufen

Den ersten Teil der Anreise bringen wir schnell hinter uns. Mit S-Bahn und Regioexpress nach Aarau und von dort mit dem Intercity-Neigezug (ICN) via Olten und Biel nach Neuchâtel. Ab hier wird das Tempo gemächlicher. Das liegt nicht nur am “Laisser-faire” der Welschen, sondern auch am Val-de-Travers-Bähnchen, welches uns nach Môtiers bringt. Gemütlich zuckelt das Bähnchen los, durchfährt typische Stadt-Agglomerationen und biegt schliesslich in das Val-de-Travers ein.

Das Val-de-Travers hat schon lange einen mystischen Ruf und ist ein Besuch wert. Mystik und der verwunschene Ruf des Tales kommen vom Absinth, jenem lange Zeit verbotenen Schnaps aus Wermuth, Fenchel, Anis und geheimen Kräutern. Oftmals grün, deshalb auch “la Fée Verte”, die grüne Fee genannt.

Doch das Tal bietet mehr als die alten Geschichten über den Absinth und Schwarzbrenner. Nur schon die Einfahrt mit dem Zug durch die Areuse-Schlucht ist fantastisch. Es wird dunkel, die Stimmung der Natur kippt ins Melancholische. Der Zug durchfährt etliche Tunnels und Brücken. Steile Felswände ragen empor und dunkler Wald scheint den Zug erdrücken zu wollen. Sonne ist hier im Herbst und Winter wohl eher Mangelware. Kein Wunder griffen die Bewohner gerne zu Selbstgebranntem.

Vorbei an den sehenswerten Asphaltminen von La Presta fährt der Zug unaufhaltsam in das Tal hinein. Die Minen lassen wir heute links liegen, ebenso den Creux-du-Van. Diesen gewaltigen, bekannten Felsenkessel. Das Tal weitet sich und der Zug erreicht Môtiers. Wir steigen aus. Und sind beeindruckt.

Môtiers hat Charme. Diese schönen alten Häuser zeugen vom einstigen Wohlstand der Gegend. Die Asphaltmine, von 1712 bis 1986 in Betrieb, Uhren und Schokolade sowie der Handelsverkehr mit Frankreich machten diese Gegend reich. Heute noch sind Feinmechanik und Präzisionswerkzeug-Herstellung wichtige Stützen der regionalen Wirtschaft.

Wir durchqueren Môtiers und halten auf den lang gezogenen Hügel des Chasserons zu. Es geht geradeaus, an einer Kunstinstallation vorbei in den Wald. Langsam aber stetig steigt der Weg an, 850 Höhenmeter liegen vor uns. Man glaubt es kaum, so flach wirkt der Hügel. Aber trotzdem, der Gipfel des Chasserons liegt auf 1’606,6 Metern über Meer.

Aufwärts durch die Schlucht zur Schlucht

Ein breiter Weg führt bergan. Immer dem Bach “Le Ried du Breuil” entlang. Der Weg ist leicht gelblich, Jura-Gestein. Wie zu Hause auf der Lägern. Und doch sind wir gute 160 Kilometer Luftlinie von der Lägern entfernt.

Der Wald ist dunkel, das Laub raschelt unter unseren Füssen. Gedämpft sind Vögel zu hören und unser rhythmisches Atmen. Der nahe Bach gurgelt, gluckst und rauscht besänftigend. Die Rucksäcke drücken schwer auf Schultern und Rücken, ungewohnt mit so viel Gewicht zu laufen. Bei den Kindern melden sich erste Ermüdungserscheinungen. Mehr Pausen als üblich sind notwendig. Das Tal wird enger, der Weg schmaler. Tief unten fliesst der Bach seines Weges. Unser erstes Etappenziel, die Schlucht “Pouetta Raisse”, liegt irgendwo in der Ferne des Waldes.

Ich verstehe, warum sich der Philosoph Jean-Jacques Rousseau gerne hier aufhielt. Während seines dreijährigen Aufenthaltes, von 1762 bis 1765, in Môtiers soll er diesen Weg des Öfteren begangen haben. “Ich kann unmöglich beschreiben, wie angenehm es hier in der warmen Jahreszeit ist”, soll er einst einem Freund vorgeschwärmt haben. Die Eindrücke des Tales zu beschreiben, sind wahrlich schwer. Auch die Fotos können das nur teilweise.

Immer wieder wechselt der Weg die Bachseite, kleine Brücken sind zu queren. Und dann die erste Treppe. Stufen aus dem Fels geschlagen künden vom Beginn des Höhepunktes – der “Pouetta Raisse”. Wasserfälle rauschen, der Weg ist nun nur noch mannsbreit. Der Abgrund ist nur selten gesichert, gut ist der Felswand entlang ein sicherndes Seil gespannt. Für nicht trittsichere Kinder ist anseilen Pflicht.

“Pouetta Raisse” grandioses Naturspektakel

Unter überhängenden Felsen hindurch geht es weiter aufwärts, das Rauschen des Baches wird lauter und kräftiger. Immer mehr Treppen müssen erstiegen, Brücken überquert und Stege ohne Geländer gemeistert werden. Wir sind mitten drin in der “Pouetta Raisse”. Die Schlucht ist grandios. Gerade jetzt im Herbst ist das Farbenspiel der durchdringenden Sonne einmalig schön. Das Grün der Felsen, die farbigen Blätter des Waldes und das klare Wasser korrespondieren auf einzigartige Weise.

Im Sommer wäre diese Schlucht wohl ein toller Badeplatz. Überall locken natürliche “Badewannen” zum Einstieg, doch die Wassertemperatur ist weit unter meiner Wohlfühl-Temperatur. Wasserfall um Wasserfall ergiesst sich über die Felsen, ganze Kaskaden passieren wir auf unserem Weg. Faszinierend.

Urplötzlich weitet sich das Tal, eine Feuerstelle lädt zur Mittagsrast. Wir glauben die Schlucht hinter uns zu haben, doch die Natur hat ihre Trumpfkarte noch nicht gezogen. Wieder verengt sich die Schlucht, am Schluss ist nur noch Platz für Weg und Bach. Weitere Treppenstufen führen in die Höhe, winden sich an den Felswänden empor. Mein Geist ist unfähig, alle Sinneseindrücke zu verarbeiten – ich bin nur noch sprachlos. Und begeistert.

Sonne, noch mehr Wald und ein schwieriges Teilstück

Der Weg macht eine Biegung und die Schlucht ist zu Ende. Eine Weile noch ist der Weg schmal, und der dichte Wald bedrängt den Wanderer, doch dann treten wir hinaus in die Sonne. Höhe über Meer 1’131 Meter. Es liegt noch einiges vor uns.

Die Sonne tut gut, sie wärmt die kalten Hände. Die Bise beachten wir gar nicht. Kurze Rast und weiter geht es. Schon bald verschwindet der Weg wieder in einen Wald. Holzfäller sind an der Arbeit, ihre Motorsägen hören wir noch lange. Auch im Wald geht es stetig bergan, nie steil, aber immer aufwärts. Nach der Schlucht ist dieses Wegstück regelrecht langweilig. Mit Singen und Witze erzählen müssen die Kinder bei Laune gehalten werden. Ein schwieriges Stück Weg.

Endlich liegt der Wald hinter uns. In der Ferne liegt ein einsames Gehöft, am Horizont grüsst der Chasseron. Das Tagesziel liegt vor uns. Über eine Hochebene geht es schnell vorwärts. Vorbei an friedlich grasenden Kühen schreiten wir wacker aus. Am Ende der Hochebene geht es wieder aufwärts, aber der Gipfel ist nicht mehr weit weg. Frohen Mutes ziehen wir weiter.

Letzte Anstrengung und grandiose Aussicht

Ein kurzes Stück auf einer Strasse, dann wieder ein breiter Forstweg. Dann eine Abzweigung, ein schmaler Weg führt eine steilere Weide hinauf. Eine Katze begleitet uns, gehört sie zum Hotel? Nein, aber sie besucht das Hotel des Öfteren. Ich renne beinahe den Hang hinauf, sehe das Ende der Steigung vor mir. Ein letzter Schritt und ich bin oben auf dem Grat angelangt. Die Bise zerrt an mir, das Hotel ganz nahe. Vor mir der Abgrund und ein umwerfender Blick über das Drei-Seen-Land (Bieler-, Neuenburger- und Murtensee), die Berner- und Waliser-Alpen

Blick zurück, die Kinder sind auch schon da. In der Ferne liegen das Val-de-Travers und die französischen Jurahöhen, die Freiberge und der weit entfernte Schwarzwald. Auch die Kinder sind begeistert. Der weitere Weg über den Grat zum Hotel ist schnell gemeistert. Nach den hinter uns liegenden Stunden ist es nur noch ein Katzensprung. Wortwörtlich, der rote Kater ist auch schon da und schnurrt fröhlich vor sich hin.

Hotel du Chasseron

Wir erreichen unser Tagesziel, das Hotel auf dem Chasseron. Das kleine Hotel verfügt nur über wenige Zimmer, eine Reservation ist unbedingt notwendig. Wir haben uns kurzfristig für diese Wanderung entschieden und bereits waren alle Zimmer belegt, nur noch Platz im Massenschlag verfügbar.

Zimmerbezug, wir waren die Einzigen im 10er-Schlag. Dann ein einfaches, feines Nachtessen mit einem erfrischenden Bier – der perfekte Ausklang eines perfekten Tages. Kartenspielen bis zum Eindunkeln. Sterne über unseren Köpfen, Lichtermeer zu unseren Füssen. Ich habe selten besser geschlafen.

2. Tag: Sturm auf den Gipfel, Abstieg in den Nebel

Gleich als Erstes nach dem Abschied vom Hotel steigen wir auf den Gipfel auf. In der Nacht hat der Wind auf West gedreht. Ob sich die Aussicht geändert hat? Ja, sie hat. Die Alpen sind noch klar sichtbar, aber die Seen sind unter einer dicken Nebelschicht verschwunden. Und irgendwo in der weissen Watte liegt unser Ziel Ste-Croix.

Langsam steigen wir ab, zu Boden gelegten Zäunen entlang, dem Nebel entgegen. Blick zurück, die warme Morgensonne lacht von einem blauen Himmel. Die Fahne des Hotels scheint “Adieu” zu winken. Und der Nebel hat uns umschlungen. Vorbei an einigen Ferienhäuschen geht es zackig abwärts. Quer durch den Wald. Eine spezielle Stimmung herrscht hier. Dunkler Wald, Nebelschwaden wabern umher. Herbst-Atmosphäre.

Weiter unten führt ein breiter Waldweg an einem Skilift vorbei nach Ste-Croix. Immer wieder drückt die Sonne kurz durch, schafft den absoluten Durchbruch aber nicht. Im Nebel erreichen wir Ste-Croix. Bahnhof und das “Musee CIMA” liegen an der gleichen Strasse unten im Dorf. Also quer hindurch, immer abwärts. Auch in Ste-Croix zeugen stattliche Häuser vom einstigen Glanz der Ortschaft.

Ste-Croix: Heimat der Musikdosen, Plattenspieler und Schreibmaschinen

Lange Zeit war Ste-Croix das Zentrum der Präzisionsmechanik, Mittelpunkt des Musikautomaten-Universums. Hier wurden Musikdosen für die ganze Welt gefertigt. Von der kleinen tragbaren bis hin zum Bahnhofsautomaten mit Münzeinwurf. Das “Musée CIMA” hat sich ganz der Musik verschrieben, während der gut einstündigen Führung werden etliche der faszinierenden Automaten vorgeführt. Gewaltige Musik-Automaten für Radrennen sind ebenso zu sehen wie Figuren, die schreiben, zeichnen oder Grossmutters Kekse stehlen wollen.

Automatische Singvögel, kleine Musikdöschen und der ganze Herstellungsprozess inklusive des Stimmens der Metallstifte sind zu sehen. Absolut lohnenswert, eine Empfehlung für jedermann. Ste-Croix war aber nicht nur bekannt für Musik-Automaten. Hier wurden auch die einst weltbekannten Hermes-Schreibmaschinen gefertigt. Und die heute noch bekannte Plattenspieler-Marke Thorens hatte hier ihren Ursprung.

Schlussbouquet

Mit der kleinen Ste-Croix-Yverdon-Bahn geht es heimwärts. Die Bahnfahrt ist ein letzter Höhepunkt auf der Reise. Immer auf dem Grat, oberhalb einer Schlucht, geht es abwärts nach Yverdon. Die Sonne hat den Durchbruch nun doch geschafft und beleuchtet die Szenerie. Schön, ein würdiges Schlussbouquet der Natur.

Mit dem Intercity fahren wir zurück, in die anbrechende Dämmerung hinein. Wir waren sicher nicht zum letzten Mal in dieser Gegend. Flora und Fauna, Gastfreundschaft der Einheimischen – alles perfekt. Auch mein Schulfranzösisch ist immer besser geworden. Und so beschliesse ich diesen Bericht mit einem Zitat in Deutsch von Jean Jacques Rousseau: “Der höchste Genuss besteht in der Zufriedenheit mit sich selbst”. Wer nach so einer schönen Wanderung nicht mit sich selbst zufrieden ist, braucht einen Seelenklempner.

Links:

SBB-Fahrplan:

SBB|CFF|FFS

Fahrplan


Nach:
Môtiers
Datum: 08.11.11
Zeit: Abfahrt
Ankunft

Bahnverkehrsinformation

Fotos von der Wanderung: